Die Zukunft beginnt heute: Überlebensstrategie für die digitale Transformation
Werner Vogels ist CTO bei Amazon.com.
Die digitale Ära hat längst begonnen. Unternehmen, die das noch nicht erkannt haben, werden zurückfallen. Wir haben gesehen, dass Startups oder Nischenanbieter in vielen Branchen eine Revolution losgetreten haben. So manch früherer Platzhirsch kämpft, wenn die Schockstarre zu lange dauert, am Ende gar ums nackte Überleben. Man braucht sich nur die Unterhaltungs- und die Musikindustrie anzusehen, wo Streaming Services den Produzenten physischer Produkte den Rang abgelaufen haben. Je klarer sich kleine und mittelgroße Player darüber sind, warum und wie sie auch heute die Weltmärkte erobern können, umso besser sind sie positioniert, um sich für diese Herausforderung zu wappnen.
Die Digitalisierung ermöglicht es auch den Kleinsten, groß zu denken, weil sie ihnen Technologien in die Hände legt, die früher zu teuer und schwer zu bekommen waren. Der Einsatz moderner Technologien alleine differenziert jedoch noch nicht. Man muss sie mit der Leidenschaft kombinieren, die Interessen seiner Kunden konsequent in den Fokus zu rücken. Erst dann können diese Technologien agile Unternehmen im globalen Wettbewerb entscheidend nach vorne bringen. Mittelständler haben hervorragende Chancen, wenn sie ihre bestehenden Geschäftsmodelle stärker digitalisieren. Gerade in fertigungsintensiven Bereichen wird immer mehr Software eingeführt, welche die Hardware ergänzt und durch die Fixkosten wegfallen. Das jeweilige Geschäft lässt sich so schnell global skalieren. Unternehmen, die sich darauf einlassen, können bedeutende Player in Märkten werden, die früher den ganz Großen vorbehalten waren.
Digitalisierung beginnt mit der richtigen Einstellung – nämlich einer, die darauf abzielt, innovative digitale Erlebnisse zu schaffen. Im Interesse des Kunden kontinuierlich zu experimentieren war das Grundprinzip bei Amazon von Anfang an – sowohl im E-Commerce, als auch bei Amazon Web Services. Wir haben herausgefunden, dass wir eine hohe Schlagzahl an Innovationen realisieren können, wenn wir das tun. Seit 2006 hat Amazon Web Services weit mehr als 2500 neue Services und Features auf den Markt gebracht, circa 90 Prozent davon resultierten aus Wünschen unserer Kunden.
Wer in seinem Unternehmen eine Kultur entwickeln will, in der digitale Innovationen gedeihen, muss den Anspruch haben, sein Angebot an die sich schnell verändernden Anforderungen der Kunden anzupassen. Es gibt in Deutschland bereits Unternehmen, die das tun. Eines davon ist Vorwerk und seine Premiummarke Thermomix, ein Alleskönner in der Küche. Dieses Produkt ist seit über 50 Jahren auf dem Markt. Aber die Art, wie Kunden heute kochen, unterscheidet sich grundlegend von den 60er Jahren. Heute muss kochen bequem, gesund und schnell sein. Die Menschen möchten Gerichte ohne viel Mühe zubereiten und sie schätzen es, während des gesamten Kochprozesses an die Hand genommen zu werden – vom Aussuchen des Rezeptes aus der Cloud bis hin zum fertigen Gericht.

Anforderungen der Industrie 4.0
Die Digitalisierung verändert Unternehmen. Entsprechend wollte das Bundesministerium für Bildung und Forschung wissen, was die Unternehmen derzeit umtreibt und wie sich der Wandel gestalten lässt. Martina Frost, Expertin des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft e. V. (ifaa) befragte deshalb Fach- und Führungskräfte aus der Metall- und Elektroindustrie. Sie analysierte, welche Auswirkungen der Einsatz der neuen digitalen Technologien auf die Führung und die Organisation eines Unternehmens hat.
Kurz gesagt: Veränderung braucht eine starke Geschäftsführung und eine versuchsfreudige, fehlertolerante Unternehmenskultur.
Als Erfolgsfaktoren für die Einführung der Technologien nannten die befragten Personen vor allem die folgenden Aspekte:

Definition der Ziele
Die Interviews zeigen, dass bei erfolgreich digitalisierten Unternehmen, die Geschäftsführung klar hinter der Einführung der Technologien stand. Bevor jedoch nur ein Cent in neue Technologien investiert wurde, gab es eine ganz klare Digitalstrategie, die von den klassischen Unternehmenszielen abgeleitet wurde beziehungsweise sich daran orientierte. Es wurde also immer erst gefragt: "Was wollen wir?" bevor die Frage: "Wie erreichen wir das?" beantwortet wurde.

Verantwortung der Führung
Die größten Veränderungen ergeben sich in erster Linie nicht für die Mitarbeiter, sondern für Führungsaufgaben und Führungsverhalten: Statt in Silos müssen die Chefs von morgen bereichsübergreifend und ganzheitlich denken. Sie sollen schnell Entscheidungen treffen - am besten, in dem sie die in Echtzeit zur Verfügung stehenden Daten als Basis nutzen. Die erfolgreich digitalisierten Unternehmen hatten durch die Bank weg Führungskräfte, die hinter den Veränderungen standen und bereit waren, Verantwortung an ihre Mitarbeiter abzugeben. Dafür braucht es vor allem Vertrauen in die Mitarbeiter.

Kommunikation
"Digitalisierung erfordert vor allem Veränderung in der Kommunikation und Veränderung bei den Kompetenzen von Führungskräften", sagt Martina Frost, Expertin des ifaa. Besonders im Vordergrund steht dabei eine veränderte Kommunikation: beispielsweise mehr digitale Besprechungen und dafür weniger Geschäftsreisen zu den Kollegen am anderen Ende der Welt.

Disziplin und Lernbereitschaft
Es herrschte meist eine auf Vertrauen basierende sowie „versuchsfreudige und fehlertolerante“ Unternehmenskultur: Wo Neues ausprobiert wird, darf auch mal etwas schief gehen. Allerdings wurde von den Interview-Partnern die Vertrautheit der Mitarbeiter mit der Technik als wichtig beschrieben. Die Mitarbeiter mussten in der Lage sein, beispielsweise eine Maschine durch Software zu steuern und die vom System oder der Software vorgegebenen Daten richtig zu verwenden. Beides erfordert die Lernbereitschaft und den Veränderungswillen der Mitarbeiter. Denn ohne die funktioniert letztlich nichts.
Unternehmen, die zu echten digitalen Innovatoren werden wollen, sollten ihre Komfortzone verlassen, selbst wenn sie (noch) keinen konkreten Veränderungsdruck verspüren. Positiver formuliert: sie müssen einen inneren Antrieb entwickeln, nicht nur die Anforderungen ihrer Kunden zu erfüllen, sondern sie vorweg zu nehmen.
SKF, ein Weltmarktführer für Kugellager und ein Zulieferer für viele Branchen, macht das bereits sehr gut. Das Unternehmen denkt die Strategie des Kunden mit: SKF fragt sich zum Beispiel, wo die neuralgischen Punkte im Geschäftsmodell von Windturbinen-Betreibern liegen. Die Wartung dieser Windturbinen ist aufwendig, weil die Anlagen geographisch weit auseinanderliegen.
Gleichzeitig müssen sie zuverlässig laufen, wenn die Windverhältnisse ideal sind. SKF entwickelt proaktiv Leistungen, die über das eigene Kerngeschäft hinausgehen. In diesem Fall, indem das Unternehmen Möglichkeiten schafft, die Windkraftanlagen mobil und cloudbasiert zu betreiben und zu warten.
Die Digitalisierung erschließt für Unternehmen völlig neue Möglichkeiten der Wertschöpfung. Wer sich eingehend mit den Chancen digitalen Innovierens befasst, wird automatisch beginnen darüber nachzudenken, welchen Wert man in einem Markt künftig schaffen möchte. Beckhoff, ein führender Hersteller von Automatisierungstechnik, ist hierfür ein gutes Beispiel. Beckhoff entwickelte eine Lösung, die Daten von zentralen Fertigungssystemen aus der Werkshalle seiner Kunden in die Cloud sendet.
Diese Konnektivität eröffnet eine Kommunikation in zwei Richtungen. Plötzlich sind Kunden von Beckhoff in der Lage, ihre Maschinendaten über die Cloud senden und empfangen. Das bedeutet, sie können von überall auf der Welt ihre Fertigung steuern oder ihre Anlagen warten. Mit einem solchen Angebot wandelt sich das Unternehmen vom Hard- zum Softwareanbieter. Und nicht nur das: Beckhoff treibt mit seinen Lösungen den Wandel des Geschäftsmodells seiner Kunden voran. Dadurch nimmt das Unternehmen in der Wertschöpfungskette eine ganz neue Rolle ein.
Die richtige Einstellung gegenüber digitalen Innovationen in der Unternehmenskultur zu verankern, gelingt nicht über Nacht. Jedoch wächst die Zahl der Unternehmen, die in der digitalen Welt erfolgreich sind, weil sie genau das geschafft haben. Sie beweisen, dass es die Anstrengung wert ist. Damit ist dann nicht nur das schiere Überleben gesichert, sondern der Grundstein für eine blühende Zukunft gelegt.
Werner Vogels hat als CTO von Amazon.com täglich mit Entwicklungen und Veränderungen der digitalen Transformation zu tun. Er wird in seiner neuen Kolumne regelmäßig über relevante Fragen und Folgen der Digitalisierung für wiwo.de schreiben.









