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Mercedes-BenzMit der autonomen S-Klasse unterwegs in Los Angeles

Deutsche Autobauer haben keine Ahnung von Software? Mercedes-Benz Drive Pilot, das erste behördlich zugelassene autonome Fahrsystem für Privatfahrzeuge, soll das Gegenteil beweisen. Was taugt es in der Praxis?Matthias Hohensee 21.03.2022 - 09:49 Uhr

Ein mit dem System Drive Pilot ausgestatteter Mercedes in Los Angeles.

Foto: Privat

Los Angeles und Stau, das gehört zusammen. Selbst im Jahr 2021 mit seinen Pandemiebeschränkungen verbrachten seine Pendler im Schnitt 62 Stunden im Stopp und Go, hat der Verkehrsdienstleister Inrix ermittelt. In Chicago und New York ist es zwar mit 104 beziehungsweise 102 Stunden noch schlimmer. Dafür hält Los Angeles aber den landesweiten Rekord für die am schlimmsten verstopfte Autobahn.

Es ergibt also Sinn, dass Mercedes-Benz die kalifornische Metropole für die Präsentation seines „Drive Pilot“ gewählt hat. Die Stuttgarter sind mächtig stolz auf ihr System für autonomes Fahren, das im November 2021 als erstes weltweit eine behördliche Zulassung für das sogenannte Level-3-Fahren erhalten hat, zumindest in Deutschland vom Kraftfahrtbundesamt. Auslandsmärkte sollen rasch folgen, für jedes Land müssen wegen unterschiedlicher Verkehrsregeln Anpassungen vorgenommen werden.

In den USA erwartet Mercedes-Benz-CEO Ola Källenius sie für dieses Jahr. Level 3 ist die erste Stufe des automatisierten Fahrens. Der menschliche Fahrer muss dabei spätestens nach zehn Sekunden die Kontrolle übernehmen können.

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Für Mercedes-Benz ist es der behördlich verbriefte Beweis, dass man beim autonomen Fahren an der Spitze fährt. Weshalb für die Demonstration nicht nur Software-Chef Magnus Östberg, sondern auch Mercedes-Technik-Vorstand Markus Schäfer nach Los Angeles gereist sind. Schäfer schwärmt über das System als „eine Mondlandung“. Die Software hat Mercedes in fünf Jahren Arbeit selbst entwickelt, die Hardware kommt von Zulieferern wie etwa vom französischen Unternehmen Valeo.

Die Manager und ihr Gefolge haben vier S-Klasse-Limousinen mitgebracht, deren Türen mit der Aufschrift „Drive Pilot inside“ gekennzeichnet sind.

Kurz nach 12 Uhr mittags macht sich Testfahrer Michael mit einer der silbrig glänzenden Limousinen von einem Hotel in Santa Monica auf den Weg nach Downtown Los Angeles.

Seine Mission ist ungewöhnlich. Statt Stau zu vermeiden, sucht er ihn gezielt. Auf der Strecke zwischen dem Küstenstädtchen Santa Monica und der mit Wolkenkratzern gesäumten Innenstadt von Los Angeles wird man normalerweise schnell fündig, die Interstate 10 (I-10) ist für ihren zähflüssigen Verkehr berüchtigt.

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Aber zur Mittagszeit hat sich der frühmorgendliche Stau bereits aufgelöst und der nachmittägliche Rückreiseverkehr noch nicht begonnen. Warum ist Stau nötig? Weil der Drive Pilot derzeit auf eine Geschwindigkeit von 60 Stundenkilometern begrenzt ist. Zudem braucht er ein vorausfahrendes Fahrzeug, dem er folgen kann.

Michael kann aufatmen, der Verkehr verdichtet sich. Nach zehn Minuten auf der I-10 ist es so weit. Auf dem Display vor ihm erscheint jetzt das vorausfahrende Fahrzeug, ein Großbuchstabe A leuchtet auf. Kurzes Drücken am Lenkrad, die Farben ändern sich auf türkisgrün, eine stilisierte Blase umschließt das eigene und das vorausfahrende Fahrzeug wie einen Kokon.

Die S-Klasse fährt nun autonom, man könnte jetzt via Handy Kurznachrichten verschicken oder im Internet browsen. Theoretisch zumindest. Denn da das System im Gegensatz zu Deutschland in den USA noch nicht zugelassen ist, muss der Testfahrer weiterhin seine Hände in Habachtstellung halten.

Auch während der Fahrt zu schlafen ist nicht möglich, weder in den USA noch in Deutschland. Denn die Fahrerüberwachungskamera achtet darauf, dass die Augen nicht geschlossen werden, zumindest nicht für mehrere Sekunden. Schließlich soll der Fahrer spätestens nach zehn Sekunden eingreifen können, wenn der Computer eine brenzlige Situation ahnt oder die Autobahn verlassen will. Das autonome Fahren dauert jedoch nur etwa zwanzig Sekunden, dann wird der Verkehr flüssiger, das vorausfahrende Fahrzeug entfernt sich und prompt fährt ein Drängler auf.

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Der Drive Pilot beeindruckt technisch und enttäuscht in der Praxis. Derzeit ist er mit zu vielen Einschränkungen verbunden. Dazu zählt nicht nur die Beschränkung auf 60 Stundenkilometer und der Einsatz auf Autobahnen. Er funktioniert nur bei Tageslicht, nicht in Tunneln, nicht bei starkem Regen und auch nicht bei Außentemperaturen von unter drei Grad Celsius, wobei Letzteres für Südkalifornien kein Problem ist. Viel limitierender ist jedoch, dass er nicht die Spur wechseln kann. Das macht seinen Einsatz fragwürdig. Denn wenn der Fahrer auch nach wiederholter Aufforderung nicht übernimmt, bremst das Auto, schaltet die Warnblinkanlage an und bleibt stehen. Weil es die Spur derzeit nicht wechseln darf, würde es also nicht auf dem Seitenstreifen zum Stehen kommen, sondern mitten auf der Autobahn.

All diese Limitierungen sind jedoch nicht technischer Natur, sondern von den Behörden diktiert. Mercedes geht davon aus, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit schon nächstes Jahr dreistellig wird, jenseits der 100 Kilometer pro Stunde wäre es dann nicht mehr nur auf Staus beschränkt.

In Kürze soll der Drive Pilot für die traditionelle S-Klasse verfügbar sein, voraussichtlich im Herbst auch in der elektrischen Variante EQS zum Einsatz kommen. Preise sind noch nicht bekannt. Doch das System muss direkt beim Autokauf mitbestellt werden, ein Nachrüsten ist derzeit nicht möglich.



Es ist eine Wette auf die Zukunft, was die Vermarktung erschwert. Abgesehen vielleicht von Kunden, die ohnehin alle Optionen ordern, was bei der S-Klasse öfter der Fall sein dürfte.

In der Praxis leisten Fahrassistenzsysteme derzeit mehr. Nicht technisch, sondern praktisch. Teslas „Autopilot“ etwa, ein sogenanntes Level 2 plus System, kann automatisch die Spur wechseln, braucht kein vorausfahrendes Fahrzeug, funktioniert auch abseits der Highways beziehungsweise Autobahnen und bei mehr als hundert Stundenkilometern. Tesla testet in den USA derzeit das „selbständige Fahren“, wo der Fahrer nur noch das Ziel eingeben muss und sich das Auto dann selbstständig navigiert.

Der große Unterschied: „Bei unserem System übernimmt im Level 3 Modus der Hersteller, also wir, die Haftung“, sagt Software-Chef Magnus Östberg. „Wir wollen unseren Kunden Zeit zurückgeben, in der sie sich nicht aufs Fahren konzentrieren müssen“.

Bei Fahrassistenzsystemen wie dem von Tesla ist hingegen weiterhin der Fahrer verantwortlich, selbst wenn der Computer steuert. Er muss sich weiterhin auf den Verkehr fokussieren. Tesla-Chef Elon Musk fährt eine fundamental andere Strategie. Er ist überzeugt, dass sich ein selbstfahrendes Fahrzeug nur mit Hilfe von Kameras orientieren muss, also genauso wie ein menschlicher Fahrer.

Alle anderen Fahrzeughersteller, vor allem Mercedes, bezweifeln das. Sie setzen auf hochauflösende Karten, Kameras, Radar und Lidar. Letzteres bezeichnet einen Scanner, der Abstand und Geschwindigkeit mit Laserstrahlen misst und nicht wie beim Radar mit Funkwellen. In der S-Klasse ist ein Lidar-Scanner des französischen Unternehmens Valeo verbaut. Nur im Zusammenspiel aller Sensoren und Kameras, beharrt man bei Mercedes, werde autonomes Fahren möglich, vor allem bei schlechteren Witterungsbedingungen.

Und man deutet an, dass Tesla wahrscheinlich ohne Lidar-System von den Behörden keine Zulassung für autonomes Fahren erhalten wird. Noch ist das nur eine Vermutung. Die US-Straßenverkehrsbehörde NHTSA betrachtet Teslas Vorgehen zwar argwöhnisch und untersucht Unfälle mit seinem Autopiloten. Doch bislang ist sie nicht eingeschritten.

Musk hält Lidar zwar weiterhin für einen Irrweg. Doch sein Unternehmen testet auch Lidar-Sensoren. Angeblich strebt man sogar eine Partnerschaft mit Lidar-Hersteller Luminar an, mit dem auch Mercedes für seine nächsten Generation von Systemen für autonomes Fahren arbeitet.

Dass autonomes Fahren selbst im Stadtverkehr funktioniert, beweisen heute schon die Robotaxis von Waymo und der General-Motors-Tochter Cruise, die in Phoenix und San Francisco im Einsatz sind. Der Unterschied ist, dass seine Betreiber großen finanziellen Spielraum bei der Auswahl von Kameras, Radar und Scanner haben. Bei normalen Autos sieht das anders aus – der wohl wichtigste Grund, warum Musk nur auf Kameras und Ultraschallsensoren setzt.

Doch Lidar-Sensoren fallen im Preis, von mehreren tausend auf nur noch wenige hundert Dollar. Das kommt Mercedes & Co entgegen. Denn die traditionellen Autohersteller können bei autonomen Systemen keinen so riskanten Weg wie Tesla einschlagen. Ein spektakulärer Unfall würde noch schwerer als beim Newcomer Tesla wiegen. Mercedes muss also seinen Drive Pilot zwangsläufig einschränken. Auch wenn es ein technisch sehr anspruchsvolles System derzeit im Namen der Sicherheit zu einem Spurhalteassistenten mit dynamischem Tempomat kastriert.

Lesen Sie auch: Was passiert, wenn künftig immer mehr autonome Autos durch unsere Städte fahren?

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