Digitalisierung Deutschland ist bei Start-ups im Blindflug unterwegs

Bundeskanzlerin Angela Merkel schaute sich 2019 bei einem Rundgang durch die Munich School of Robotics and Machine Intelligence der Technischen Universität München (TUM) einen „Roboterarm„ an. Doch wie oft Start-ups an öffentlichen Aufträgen beteiligt werden, interessierte die Regierung bisher offenbar wenig. Quelle: dpa

Eigentlich will die Regierung Start-ups fördern, auch über öffentliche Aufträge. Doch wie oft Innovatoren zum Zuge kommen, weiß sie nicht – denn bisher hat sie nicht einmal geklärt, was überhaupt ein Start-up ist.

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Bei einer Blutvergiftung zählt jede Minute, schnelles Handeln ist überlebenswichtig. Um Patientinnen und Patienten mit erhöhtem Sepsis-Risiko besser zu überwachen, haben Krankenhäuser aus den Niederlanden, Spanien, Belgien und Finnland eine telemedizinische Plattform aufgebaut. Für den öffentlichen Auftrag hatten sie zuvor nicht nur auf den üblichen Branchenseiten geworben, sondern auch in Start-up-Foren – und tatsächlich ging der Zuschlag am Ende an zwei Start-ups und ein großes Unternehmen.

Gemeinsam entwickelten sie Diagnosetools zur Früherkennung. Die sepsisbedingte Sterblichkeit könne so um 25 Prozent verringert, die Verweildauer im Krankenhaus um 20 bis 50 Prozent verkürzt werden, heißt es in einem Bericht der EU-Kommission zur innovationsfördernden öffentlichen Auftragsvergabe.

Bundesregierung versäumt Begriffsdefinition und Statistik 

Wie oft Start-ups in Deutschland bei solchen öffentlichen Vergabeverfahren zum Zuge kommen, ist allerdings nicht bekannt – denn die Regierung hat für sich noch nicht einmal geklärt, was überhaupt ein Start-up ist. Dabei hat sie mit Thomas Jarzombek einen Start-up-Beauftragten im Wirtschaftsministerium sitzen.

„Bisher existiert keine allgemeingültige Definition dieses Begriffs“, teilt das Wirtschaftsministerium auf eine Anfrage der Grünen mit. Deshalb finde auch „keine systematische Erfassung“ darüber statt, ob es sich bei Unternehmen, die sich an einem Vergabeverfahren beteiligen, „um Start-ups handelt“, schreibt Staatssekretär Ulrich Nußbaum.

Folglich hätte die Regierung auch „keine Informationen“ darüber, wie oft Start-ups an den Vergabeverfahren beteiligt waren, die vom Kanzleramt und den Ministerien für Gesundheit, Forschung, Verteidigung, Verkehr, Wirtschaft und Inneres zwischen 2015 und 2020 ausgeschrieben worden sind. 

Die Regierung hat sich zwar vorgenommen, Start-ups zu fördern, auch durch die Vergabe von Aufträgen – aber ob und wie das gelingt, weiß sie offensichtlich nicht.

Grünen kritisieren „Desinteresse“

„Dass die Bundesregierung bis heute nicht einmal eine Definition von Start-ups hat, zeigt das Desinteresse gegenüber einer innovativen öffentlichen Vergabe an junge Unternehmen“, kritisiert Anna Christmann, innovationspolitische Sprecherin der Grünen. Wer nicht einmal wisse, wie viele Start-ups in öffentlichen Ausschreibungen zum Zug kommen, könne auch nicht besser werden. „Alles Reden über Modernisierung bringt nichts, solange der Staat nicht selbst vorangeht“, betont Christmann, die für eine grüne „Gründungsoffensive“ wirbt.

Wie es anders gehen könne, zeige beispielsweise Frankreich. Dort könnten innovative Technologien unter 100.000 Euro ohne umständliche Verfahren beschafft werden. Ein Beispiel, das auch die EU-Kommission lobt.

EU-Nachbarn haben Strategien und Aktionspläne 

Frankreich habe wie Dänemark, Estland, Griechenland und Schweden „umfassende nationale Strategien oder Programme“, in denen „spezifische Ziele und konkrete Maßnahmen“ zur innovationsfördernden Auftragsvergabe festgelegt sind, heißt es in dem Bericht. Auch Österreich, Belgien, Finnland und die Niederlande hätten bereits einen eigenen Aktionsplan für innovationsfördernde Auftragsvergabe angenommen.

Während die einen also Strategien und Aktionspläne haben, scheitert Deutschland schon an der Begriffsdefinition und dem Führen von Statistiken – ein Blindflug, der negative Folgen für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit haben kann.

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