Automobilindustrie im Umbruch: Künstliche Intelligenz als Motor einer historischen Transformation
Software-definierte Fahrzeuge
- 17.07.2025


Wo sehen Sie aktuell die größten Chancen für OEMs (Original Equipment Manufacturers, also Fahrzeughersteller) beim Wandel hin zu software-definierten Fahrzeugen – und was bremst diesen derzeit noch?
Die Transformation zu software-definierten Fahrzeugen bietet für OEMs eine strategische Jahrhundertchance. Sie betrifft zwei grundlegende Paradigmen: Erstens verändert sich der Entwicklungsprozess – durch softwarezentrierte Architekturen können Funktionen deutlich schneller, modularer und plattformübergreifend umgesetzt werden. Zweitens entsteht ein völlig neues Geschäftsmodell: Anstelle von einmaligen Verkaufserlösen ermöglichen langfristige, datenbasierte Kundenbindungen über den gesamten Fahrzeuglebenszyklus wiederkehrende Einnahmen durch digitale Services, Feature-on-Demand und abonnementbasierte Upgrades – vergleichbar mit Plattformmodellen wie Amazon oder Netflix.Möglich wird dieser Wandel durch den Ersatz herkömmlicher, komplexer Elektrik/Elektronik-Architekturen durch moderne, zonenbasierte Konzepte. Diese ermöglichen eine klare Trennung von Software und Hardware, erhöhen die Wiederverwendbarkeit von Modulen und schaffen die Voraussetzung für Over-the-Air-Updates sowie kontinuierliche Innovationszyklen.
Die Herausforderung für Unternehmen ist dabei ihre Entwicklung parallel zum Tagesgeschäft auf agile, softwaregetriebene Prozesse umzustellen, neue Plattformen einzuführen und die Fahrzeugarchitektur zu modernisieren. Hinzu kommen fragmentierte Lieferketten, regulatorische Anforderungen und der Mangel an qualifizierten Fachkräften.
Wie verändert KI – insbesondere generative KI – die Entwicklung und den Betrieb moderner Fahrzeugsysteme?
Generative KI beschleunigt die Fahrzeugentwicklung vom ersten Konzept bis zum fertigen Fahrzeug. Durch KI-gestützte Code-Erstellung, Tests und Fehleranalysen können sich Teams mehr auf strategische Aufgaben konzentrieren. Im Design lassen sich Gewicht, Material und Aerodynamik von Bauteilen mithilfe von KI-Software schneller und ressourcenschonender als je zuvor optimieren.Im Fahrzeugbetrieb revolutioniert KI die Wartung: Sensordaten werden in Echtzeit analysiert, um Ausfälle vorherzusagen und zu beheben – teils ganz ohne Werkstattbesuch.
Enormes Potenzial liegt im Kundenerlebnis: KI-Assistenten integrieren sich nahtlos ins Fahrzeug und entwickeln sich durch Over-the-Air-Updates zu persönlichen digitalen Begleitern mit Kalender-, Navigations- und Unterhaltungsfunktionen. Neue Anwendungen können so schnell ausgerollt und monetarisiert werden. Dies ist ein entscheidender Vorteil im Wettbewerb um Nutzerbindung.
In welchen Bereichen – Forschung und Entwicklung, Produktion oder After-Sales – erleben Sie derzeit den stärksten Impact durch KI-Technologien?
KI wirkt sich entlang der gesamten automobilen Wertschöpfungskette aus, wobei Intensität und Reife variieren. In der Forschung und Entwicklung beschleunigen KI-gestützte Simulationen und virtuelle Testverfahren die Validierung neuer Konzepte erheblich. Generative KI kommt zunehmend bei der Materialvorauswahl, der Konzeptentwicklung und der Systemarchitektur zum Einsatz. In Kombination mit agilen Entwicklungsmethoden lassen sich so die Produktentstehungszyklen enorm verkürzen und somit die Wettbewerbsfähigkeit sichern.In der Produktion sehen wir einen klaren Effizienzhebel durch automatisierte Qualitätskontrolle, prädiktive Instandhaltung und intelligente Logistiksysteme. Fehlerquoten sinken und Produktionsstillstände lassen sich vermeiden – ein starkes Argument angesichts des allgemeinen Kostendrucks.
Im After-Sales ermöglicht KI personalisierte Services, zielgerichtete Wartung und datenbasierte Erweiterungen. So können OEMs ihre Fahrzeuge über den gesamten Lebenszyklus weiterentwickeln und neue Einnahmequellen erschließen. KI schafft also nicht nur operative Vorteile, sondern ist auch Wachstumstreiber.

Welche konkreten Vorteile bringt der Einsatz von KI für Nachhaltigkeit und Effizienz in der Automobilindustrie?
KI leistet einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit durch die Optimierung von Produktionsprozessen und Lieferketten, was Energieverbrauch und Materialeinsatz reduziert. Prädiktive Wartung verlängert die Lebensdauer von Fahrzeugen und reduziert die Verschwendung von Ressourcen. In Elektrofahrzeugen optimiert KI den Energieverbrauch in Echtzeit, um die Reichweite zu erhöhen und den CO2-Ausstoß zu verringern.Zusätzlich unterstützt KI die Entwicklung nachhaltigerer und langlebigerer Fahrzeuge durch die Analyse von Material- und Markttrends und die Optimierung der Recyclingfähigkeit gebrauchter Fahrzeuge.
Wie begegnet Avenga dem zunehmenden Softwarebedarf bei OEMs – und wie gelingt der Spagat zwischen Kooperation und Know-how-Schutz?
Bei OEM-spezifischen Softwareprojekten setzen wir auf maßgeschneiderte, agile Teams und flexible Skalierung der Entwicklungskapazitäten. Mithilfe modularer, wiederverwendbarer Softwarearchitekturen beschleunigen wir Projekte und reduzieren Komplexität – besonders wichtig bei software-definierten Fahrzeugen.Der Schutz sensiblen Know-hows erfolgt durch strikt getrennte Datenräume, rollenbasierte Zugriffssysteme und kundenspezifische Wissensdatenbanken. Zusätzlich setzen wir DevSecOps-Prinzipien ein: IT-Sicherheit, Datenschutz und Compliance sind von Anfang an Bestandteil des Entwicklungsprozesses. So gewährleisten wir innovative, revisionssichere Lösungen für sicherheitsrelevante Fahrzeuganwendungen.
Was bedeutet für Sie Engineering Excellence im Zeitalter von KI, agiler Entwicklung und nutzerzentriertem Design?
Engineering Excellence bedeutet heute mehr als nur technische Präzision. Es geht um die Fähigkeit, robuste Systeme unter dynamischen Bedingungen zu entwickeln und kontinuierlich zu verbessern – stets mit dem Kunden im Blick. Agilität, Interdisziplinarität und datenbasierte Entscheidungen sind Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg.Bei Avenga verbinden wir tiefes Systemverständnis mit modernen Entwicklungsmethoden und konsequentem Nutzerfokus. Wir helfen unseren Kunden, Exzellenz messbar zu machen: durch Geschwindigkeit, Qualität und Nutzerzufriedenheit sowie durch die Fähigkeit, flexibel auf Marktveränderungen zu reagieren. KI unterstützt uns dabei im gesamten Entwicklungszyklus, etwa im V-Modell, Engineering Excellence kontinuierlich zu verbessern. Technische Exzellenz ist somit kein Zielzustand, sondern ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess.
Wie unterstützen Sie Ihre Kunden beim Umgang mit ethischen und regulatorischen Fragen rund um KI – etwa im Kontext autonomer Systeme?
Wir beraten zu aktuellen und künftigen Regulierungen wie dem EU AI Act und unterstützen bei der Implementierung entsprechender Prozesse. Autonome Systeme werfen spezifische ethische Fragen auf: Wie sollen Fahrzeuge in Dilemma-Situationen entscheiden? Wie kann menschliche Kontrolle gewährleistet werden? Gemeinsam mit unseren Kunden entwickeln wir ethische Entscheidungsframeworks und definieren klare Verantwortungsstrukturen zwischen Herstellern, Betreibern und Nutzern.Sicherheits- und Ethikaspekte werden von uns direkt in den Entwicklungsprozess integriert, beispielsweise durch die Orientierung an Normen wie ISO 26262 oder durch Safety-by-Design-Methoden (Sicherheitskonzepte, die von Beginn an in das Systemdesign einfließen). Transparenz, Nachvollziehbarkeit und kontinuierliche Systemüberwachung sind für uns nicht nur regulatorische Anforderungen, sondern wesentliche Qualitätsmerkmale zukunftsfähiger Systeme.

Welche neuen Rahmenwerke oder Standards setzen sich derzeit im Umgang mit KI in sicherheitskritischen Anwendungen durch?
Mit der ISO/PAS 8800:2024 liegt erstmals ein Standard vor, der sich explizit auf sicherheitsrelevante KI-Anwendungen in Fahrzeugen bezieht – einschließlich autonomer Fahrsysteme. Er ergänzt etablierte Normen wie ISO 26262 und ISO 21448, indem er auf die Eigenheiten lernender Systeme eingeht, etwa Modellverhalten, Datenqualität oder Validierung.Parallel dazu schafft der EU AI Act verbindliche Anforderungen für sogenannte Hochrisiko-KI-Systeme. Für Automobilhersteller werden die Anforderungen an Transparenz, Dokumentation und Risikomanagement relevanter. Diese Vorgaben werden durch methodische Standards wie DIN SPEC 92005 sowie praxisnahe Empfehlungen von Institutionen wie dem BSI oder dem Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering ergänzt.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Disruptionspotenziale für KI im Automobilsektor bis 2030?
Die größten Umwälzungen entstehen dort, wo KI nicht nur einzelne Funktionen optimiert, sondern ganze Geschäftsmodelle transformiert. Denken Sie an autonom fahrende Flotten in urbanen Räumen, die in Echtzeit lernen und sich optimieren, um neue Mobilitätskonzepte zu ermöglichen. Oder an hyperpersonalisierte Fahrzeuge, die sich dynamisch anpassen: von der Sitzposition über das Infotainment bis hin zur Fahrweise – basierend auf Emotionen, Verhalten und Kontext.Ein besonders tiefgreifender Wandel ist der Übergang von regelbasierten Fahrerassistenzsystemen zu KI-basierten Architekturen. Dieser Paradigmenwechsel bei den Fahrerassistenzsystemen (ADAS) ist die Grundlage für vollautonome Fahrsysteme mit selbstlernenden Algorithmen, die komplexe Verkehrssituationen interpretieren und adaptiv reagieren. Dadurch verändern sich die technische Grundlage, die Sicherheitsarchitektur und das Nutzerverständnis von Mobilität grundlegend.
Auch in der Produktion und in der Lieferkette wird KI durch selbstoptimierende Systeme, lernende Supply-Chains und vollautomatisierte Qualitätssicherung disruptiv wirken. Die Kombination aus KI, Edge Computing und Over-the-Air-Plattformen schafft ein völlig neues Ökosystem, das die Grenzen zwischen Hersteller, Zulieferer und Service-Provider auflöst.
In welche KI-Innovationen sollten OEMs und Zulieferer jetzt investieren, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben?
Priorität hat generative KI für Entwicklung, Design und Softwareautomatisierung – hier sind bereits heute enorme Effizienzgewinne möglich. Ebenso wichtig ist der Aufbau skalierbarer Plattformen für prädiktive Wartung, intelligente Qualitätssicherung und datenbasierte Geschäftsmodelle.Entscheidend ist jedoch die interne Kompetenzentwicklung. Data Literacy, KI-Governance, Compliance und Sicherheitsarchitekturen sind zu zentralen strategischen Assets geworden. Unternehmen, die KI als integralen Bestandteil aller Geschäftsbereiche verstehen und nicht nur als Tool, werden sich im Wettbewerb langfristig durchsetzen. Die entscheidende Frage ist heute, wer generative KI am schnellsten und intelligentesten einsetzt.