Defibrillator aus der Luft Wenn die Drohne zum Lebensretter wird

Der Retter aus der Luft: Die Drone von Everdrone hat einen Defibrillator geladen, der direkt von den Rettungskräften vor Ort genutzt werden kann. Quelle: Everdrone

In der Logistik haben sich Drohnen trotz großer Hoffnungen nicht durchgesetzt. Dafür brillieren sie in Spezialeinsätzen – und könnten jetzt die Notfallrettung revolutionieren, wie ein Pilotprojekt aus Schweden zeigt.

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Es ist nur eine ungewöhnliche Bewegung, die Dr. Mustafa Ali im Augenwinkel wahrnimmt, als der Arzt aus dem westschwedischen Trollhättan auf dem Weg zum Dienst im Norra Älvsborg Krankenhaus ist. Gerade als Ali vorbeifährt, sackt auf dem Trottoir ein älterer Mann beim Schneeschaufeln in sich zusammen. Der Arzt stoppt, läuft zum Patienten und beginnt, weil er keinen Puls fühlt, sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen.

„Parallel habe ich einen Passanten gebeten, einen Notruf abzusetzen“, erzählt der Mediziner von seinem Rettungseinsatz Ende vergangenen Jahres, der sich nur Minuten später zu einer Premiere im globalen Rettungswesen entwickelt. So ungewöhnlich schon war, dass der Arzt im Moment des Notfalls am Ort vorbeifuhr, noch ungewöhnlicher war, was anschließend passierte: „Ich sah kurz nach dem Notruf plötzlich etwas über meinem Kopf fliegen. Eine Drohne, die einen Defibrillator brachte.“

Mit dem Rettungsgerät, das lebensbedrohliches Kammerflimmern erkennen und mithilfe gezielter Stromstöße wieder einen normalen Herzschlag herstellen kann, stabilisierte Mediziner Ali den 71-jährigen Patienten bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes. Nach der Erstbehandlung konnten ihn die Retter ins Krankenhaus bringen. Gut einen Monat nach dem Vorfall hat sich der Mann inzwischen erholt und ist wieder daheim.

Die außergewöhnliche Luftrettung Anfang Dezember war der erste reguläre Einsatz einer Defibrillatoren-Drohne weltweit. Aber sie soll es nicht bleiben. Künftig sollen – zunächst in Schweden, später auch in anderen Staaten weltweit – Rettungsdrohnen immer häufiger bei lebensbedrohlichen medizinischen Notfällen Hilfe bringen. Künftig könnten die kompakten Elektroflieger für Rettungsdienste und Feuerwehren auch weitere Aufgaben übernehmen, etwa bei der Ersterkundung von Unfallstellen, langfristig womöglich sogar bei der Brandbekämpfung.

Grundlage des Rettungsfluges in Trollhättan ist eine Kooperation des schwedischen Notrufbetreibers SOS Alarm mit dem 2015 gegründeten Startup Everdrone. Die Drohnenspezialisten aus dem Umland der Großstadt Göteborg haben eine digitale Rettungsplattform entwickelt, die mit dem Rechnersystem von SOS Alarm gekoppelt ist. Sie erlaubt es den Leitstellendisponenten, bei Notfällen nicht bloß Rettungswagen zu den Unfallorten zu schicken, sondern auch die Koordinaten des Einsatzortes an Everdrone zu übermitteln.

In viereinhalb Minuten am Notfallort

„Unser Operator prüft dann die Wetterlage, meldet den Rettungsflug bei der Luftraumkontrolle an und überspielt die von unseren Navigationssystemen optimierte Flugroute an die nächstgelegene Drohnenbasis“, sagt Magnus Hallberg, der bei Everdrone den Ausbau des Geschäfts verantwortet. „Ist der Notfallort drei bis viereinhalb Minuten Flugzeit von der Basis entfernt, schicken wir die Drohnen los.“ Sechs solcher Rettungsstationen, die ein Einsatzgebiet von jeweils elf bis zwölf Kilometern Durchmesser abdecken können, hat Everdrone bereits in der westschwedischen Region Västra Götaland in Betrieb genommen. Weitere sollen folgen.

Mission Control: Drohnenspezialisten haben eine digitale Rettungsplattform entwickelt. Quelle: Everdrone

Mit Tempo 70 bis 75 km/h surren die Rettungsflieger in 65 Metern Höhe autonom ihrem Ziel entgegen; entlang der vorgeplanten Flugroute, die sensible Objekte wie Schulhöfe oder Kindergärten ausspart und auch Hindernisse wie etwa Hochspannungsleitungen oder Brücken umkurvt. Am Ziel angekommen, sinkt die Drohne ab und seilt den in einem robusten Kasten verpackten Defibrillator bis zum Boden ab.

Bedienhinweise in Form leicht verständlicher Bilder ermöglichen es dann sogar medizinischen Laien, die sogenannten Automatischen Externen Defibrillatoren (AED) Patienten mit Herzrhythmusstörungen korrekt anzulegen. Anschließend überprüfen die Geräte die Herzfrequenz. Ist ein Schock erforderlich, leiten die Geräte Helfer per Sprachausgabe an, lösen den und geben anschließend sogar noch den Takt für die Herz-Lungen-Wiederbelebung vor, während die Drohne bereits auf dem Rückweg zur Basis ist.

„Überall da, wo der die Flugzeit kurz genug ist, um Defibrillatoren innerhalb von etwa zehn Minuten ab dem Notruf zum Einsatzort zu bringen, können wir sinnvoll tätig werden“, sagt Hallberg. „Das Zeitfenster, in dem ein Defibrillatoren bei der Ersten Hilfe entscheidenden Nutzen bringen können, schließt sich, wenn der Flug deutlich länger dauert“, so der Drohnenspezialist.

Bis zu fünf Rettungsflüge pro Woche

Gemeinsam mit Fachleuten der Karolinska Universität haben die Everdrone-Entwickler eine ganze Reihe möglicher Einsatzszenarien untersucht und dann den Lufttransport der Defibrillators als erste praktische Anwendung einsatzreif entwickelt. Seit Spätherbst vergangenen Jahres sind die Drohnen nun für Regeleinsätze mit dem traditionellen Rettungsdienst verknüpft. Zwischen zwei- und fünfmal wöchentlich, sagt Hallberg, startet seither ein Hilfsflug. Und der Rettungseinsatz von Dr. Mustafa war der erste, bei dem das Gerät tatsächlich lebensrettend zum Einsatz kam.

Und der weltweites Echo auslöste: „Wir haben Anfragen aus Europa und Übersee“, sagt Hallberg. Technisch sei der Einsatz in anderen Ländern sicher ebenso möglich, es brauche wohl nur ein anderes Finanzierungsmodell als in Schweden, wo Kommunen, Regionen oder Krankenhausträger die Kosten für den Rettungsdienst tragen. Über konkrete Einsatzmöglichkeiten werde man in den kommenden Monaten mit ausländischen Interessenten sprechen, darunter auch aus Deutschland.

„Der Einsatz hat aufgezeigt, was mit moderner Technik möglich ist, um etwa das sogenannte „therapiefreie Intervall“ zu verkürzen, also die Zeitspanne vom Eintreten eines Notfalls bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes“, sagt Sylvia Pratzler-Wanczura. Sie ist wissenschaftliche Leiterin am Institut für Feuerwehr- und Rettungstechnologie (IFR) der Berufsfeuerwehr Dortmund, die auch Partner des Deutschen Kompetenzzentrums für Rettungsrobotik (DRZ) ist.

Auch am DRZ arbeiten Forscherinnen und Ingenieure längst an Einsatzmöglichkeiten für die kompakten Elektroflieger. Der medizinische Einsatz sei ein denkbares Aufgabengebiet, etwa um Vitalwerte wie Puls oder Atmung von Patienten oder Einsatzkräften aus der Luft zu erkennen. Auch für klassische Feuerwehreinsätze erhoffen sich die Fachleute Vorteile durch Drohnenflüge. „Ziel ist in erster Linie, einen zeitlichen Vorsprung zu verschaffen, wenn Drohnen vor den Einsatzkräften vor Ort sind und bereits erste Informationen zur Lage übermittelten können“, sagt IFR-Expertin Pratzler-Wanczura. Ein weiteres Szenario wäre, dass mit speziellen Sensoren ausgestattete Drohnen beim Überflug über Schadensorte bereits vorab Gefahrstoffe oder andere Gefahren erkennen können. „Im günstigsten Fall“, so die Rettungsforscherin, „wird die so genannte 'Chaos-Phase' nach Eintreffen der Einsatzkräfte somit auf ein Minimum verkürzt.“

Auch Everdrone-Mann Hallberg hat – neben dem Rettungsdienst – Feuerwehren schon als potenzielle Anwender im Blick. „Unter anderem könnten sie per Drohne Entstehungsbrände in Wäldern deutlich schneller und umfassender erkunden, als vom Boden aus“, sagt Hallberg. Wann die ersten Aufklärungsdrohnen starten, dazu wagt der Everdrone-Mann aber noch keine Prognose. „Jetzt bringen wir erst einmal die Defibrillatoren-Drohnen in die Fläche.“ Und davon gibt es in Schweden ja eine ganze Menge.

Mehr zum Thema: Nach langer Anlaufzeit setzen sich Roboterhunde am Markt durch. Nicht als Spielzeug – sondern als Wächter oder Rettungsgerät in Fabriken oder auf Ölplattformen.

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