Herr Haucap, laut dem Drogen- und Suchtbericht 2017 sind die volkswirtschaftlichen Schäden durch Tabak und Alkohol ungefähr 120 Mal so hoch wie die Schäden durchs Kiffen. Ist es an der Zeit, auch Bier und Zigaretten zu verbieten?
Wenn man die wirtschaftlichen Schäden noch ein wenig höher treiben will, dann wäre das genau der richtige Ansatz. Wenn man die Schäden aber lieber begrenzen möchte, muss man genau den umgekehrten Weg gehen – und Cannabis legalisieren.
Zur Person
Justus Haucap ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Dort ist er Gründungsdirektor des Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE). Bis 2012 war er Vorsitzender der Monopolkommission.
Aber wir sehen doch bei Alkohol und Zigaretten zu welchen Schäden das führt.
Die erste Frage bei solchen Zahlen ist doch, wie das berechnet worden ist. Zweitens steht den Schäden ja auch eine Wertschöpfung etwa bei Brauereien, Weingütern, Tabakproduzenten und Gastronomie gegenüber. Das ist ein volkswirtschaftlicher Gewinn. Und drittens ist der allergrößte Anteil des Alkoholkonsums ja auch völlig unproblematisch und bereitet den Leuten Freude. Ich finde, wir sollten den Leuten nicht jeden Spaß am Leben nehmen.
Noch mehr Freude hätten einige, wenn sie legal einen Joint rauchen dürften…
…und aus ökonomischer Sicht spricht auch alles für die Legalisierung. Natürlich: Kiffen ist nicht gesund. Aber die Leute kiffen doch auch jetzt – trotz Verbot. Man kann an jeder Ecke Gras kaufen, da muss man nur kurz Google befragen, wo man in welcher Stadt hingehen muss. Aber beim Dealer gibt es eben keinen Verbraucherschutz und kein Mindestalter. Außerdem hat der Dealer einen Anreiz, seinen Kunden auch die harten Drogen anzudrehen. Denn im Vergleich zu Koks oder MDMA wirft Cannabis recht wenig Marge ab.
Geschichte der Drogen: Raketentreibstoff und Panzerschokolade
Alexander von Humboldt bereist Lateinamerika und berichtet, wie Einheimische die Blätter der Kokapflanze konsumieren. Das zügelt ihren Appetit, und die harte Feldarbeit fällt ihnen leichter.
In Göttingen gelingt es dem Apotheker und Chemiker Albert Niemann, die aktiven Komponenten des Koka-Strauches zu isolieren. Er gibt dem Stoff den Namen Kokain. Weil er euphorisiert und betäubt, wird er zunächst bei Patienten mit Depressionen und bei Operationen eingesetzt.
1883 mischt der bayrische Militärarzt Theodor Aschenbrand seinen Soldaten Kokain ins Essen. Mit beeindruckendem Ergebnis: Selbst sehr erschöpfte und verwundete Soldaten fangen wieder an zu kämpfen.
Ein neues Mittel gegen Kopfschmerzen, Hysterie, Melancholie und Müdigkeit kommt auf den Markt: Coca-Cola. Sein Erfinder John Stith Pemberton bewirbt die Medizin als „Brain Tonic“ – zu Deutsch: Hirntrunk. Zeitweise soll ein Liter etwa 250 Milligramm Kokain enthalten haben.
Am 17. Dezember 1914 gibt es schärfere Gesetze in den USA: Der Missbrauch von Kokain wird unter Strafe gestellt. Der Stoff verschwindet aus Coca-Cola und wird durch Koffein ersetzt.
Während es mit der Wirtschaft bergab geht, hat der Kokainkonsum in Deutschland Hochkonjunktur. Hier wird er erst um 1930 verboten.
Knapp 40 Jahre, nachdem Amphetamin erstmals künstlich hergestellt wurde, testet der US-Chemiker Gordon Alles im Selbstversuch, wie der Stoff wirkt: stimulierend und euphorisierend.
1932 bringen US-Pharmafirmen ein Amphetamin-Präparat auf den Markt: Benzedrine soll Krampfanfälle von Asthmatikern lindern. Kurz darauf wird es auch gegen 40 weitere Krankheiten eingesetzt, zum Beispiel Allergien und Erkältungen.
Studenten der Universität Minnesota bemerken in einem Forschungsprojekt, dass Amphetamin Müdigkeit vertreibt, und sie benutzen es, um nächtelang zu lernen.
Benzedrine gibt es jetzt auch als Tablette. Und es wird bald ein Kassenschlager: Wer sich damit aufputscht, kann rund um die Uhr arbeiten.
1938 wird in Deutschland das Mittel Pervitin zugelassen und massiv beworben. In ihm steckt der Wirkstoff Methamphetamin, das noch stärker stimuliert als Amphetamin. Eine kleine Dosis der „Wunderdroge“ genügt, um 24 Stunden am Stück wach bleiben zu können.
Deutsche Soldaten fallen in Polen ein. Viele von ihnen stehen unter Drogen. Millionen Einheiten Pervitin – auch bezeichnet als „Panzerschokolade“ oder „Hermann-Göring-Pillen“ – halten die Wehrmacht und die Arbeiter in der Rüstungsindustrie wach und fit. Der Stoff nimmt den Soldaten Todesangst, Durst und Hungergefühl, steigert ihre Aggressivität und Leistungsbereitschaft.
Angesichts hoher Nebenwirkungen erkennt der „Reichsgesundheitsführer“ der Nazis im Jahr 1941 die „Pervitingefahr“. Das Mittel wird verschreibungspflichtig.
Im Zweiten Weltkrieg ziehen auch britische, amerikanische und japanische Soldaten mit Millionen von Amphetamin-Tabletten in den Krieg. Der Stoff versetzt sie in den sogenannten „Fight, Fright, Flight“-Zustand: Der Körper konzentriert sich auf „Kämpfen, Fürchten, Flüchten“ und das pure Überleben. Alle anderen Bedürfnisse werden abgeschaltet.
Der Chemiker Leandro Panizzon synthetisiert Methylphenidat – ein künstlicher und anregender Stoff, der Amphetamin ähnelt. Nach Jahrzehnten im Schattendasein wird es als Ritalin seinen Siegeszug antreten. Namensgeberin ist übrigens Marguerite Panizzon, die Ehefrau des Forschers: Sie nimmt das Mittel vor dem Tennisspielen und spielt gleich viel besser.
Auch wenn 1945 der Zweite Weltkrieg endet, geht der Konsum von Aufputschmitteln weiter: Lastwagenfahrer, Lohnschreiber und Studenten setzen auf die stimulierende und Schlaf verhindernde Wirkung von Amphetamin.
Die USA und 15 andere Nationen intervenieren im Koreakrieg. US-Soldaten injizieren sich „Speedballs“: Cocktails aus Heroin und Amphetamin, das sie „Splash“ nennen.
Der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl erklimmt im Himalaya den Nanga Parbat (8125 Meter) – auch dank Pervitin.
In Bern gewinnt die deutsche Nationalelf die Fußball-WM. Ihr Mannschaftsarzt wird später verdächtigt, den Spielern den „Raketentreibstoff“ Pervitin eingeflößt zu haben.
Ritalin ist jetzt auch in Deutschland zu haben: Wer schnell müde wird oder deprimiert ist, soll es nehmen, empfiehlt die Werbung – außerdem all jene, die nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tag Vollgas geben müssen.
Die USA bombardieren Ziele in Nordvietnam. In den folgenden Jahren werden an die US-Militärs in Indochina über 200 Millionen Einheiten Amphetamine verteilt.
Hippies in den USA berauschen sich an der „Liebesdroge“ MDMA – einem Amphetaminabkömmling, der später als Ecstasy bekannt wird.
In den USA werden die Gesetze verschärft: Wer Amphetamin ohne Genehmigung herstellt, besitzt oder damit handelt, macht sich strafbar. Präsident Richard Nixon erklärt dem „Staatsfeind Nummer eins“ den Krieg: Der „War on Drugs“ beginnt.
1971 löst in Deutschland das Betäubungsmittelgesetz das Opiumgesetz von 1929 ab. Die ungenehmigte Produktion von und der Handel mit Amphetaminen werden erst 1981 strafbar.
In den USA mehren sich die Fälle von heftigem Methamphetamin-Missbrauch: Der Konsum von „Crystal“ oder „Meth“ steigt bis heute immer weiter an. Der Stoff macht enorm abhängig, stürzt die Konsumenten in einen orgiastischen Rausch und ruiniert ihr Leben in kürzester Zeit.
Der Amphetaminabkömmling MDMA darf in den USA nicht mehr benutzt werden – dennoch hat er als Partydroge Ecstasy eine steile Karriere vor sich. Wer sie nimmt, kann zwar nicht besser arbeiten, aber besser feiern.
Während Methamphetamin in den USA um sich greift, wird das baugleiche Pervitin aus den Regalen der deutschen Apotheken verbannt. Ritalin, das lange frei verkäuflich war, darf nur noch in geringen Mengen abgegeben werden.
Vier Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center beginnt in Afghanistan die Operation „Enduring Freedom“. In dem jahrelangen Einsatz schlucken viele Soldaten Antidepressiva wie Prozac. Schon länger nehmen Piloten der US-Air-Force vor Kampfeinsätzen „go pills“ – kleine Dosen Amphetamin.
Und das würde besser werden, wenn man Cannabis legalisiert?
Klar. Mein Weinhändler redet mir ja auch nicht ein, ich könne doch bei ihm gleich auch noch den Schwarzgebrannten von seinem Schwager kaufen.
Wenn man ihr Argument weiterdenkt, müsste man auch härtere Drogen legalisieren.
Ja, das stimmt. Aber auch dagegen spricht ökonomisch gesehen nichts. Das Geschäft läuft ja auch illegal ab. Momentan profitieren davon zwei Gruppen: die organisierte Kriminalität, also die Mafia, und Terrororganisationen wie der IS. Durch das Verbot der Drogen unterstützt man also diese Gruppen. Sobald man die Substanzen aber legalisiert, bricht denen zumindest ein Teil ihrer Einnahmen weg.
Und dann gäbe es im Supermarkt neben der Dose Pils auch den Sechserpacken Joints, eine Dose Ecstasy-Pillen und ein Tütchen Koks?
Es müsste für die Drogen, sowohl für Cannabis als auch für die härteren, natürlich spezielle Läden geben. Gerade für härtere Drogen könnten die ruhig an Apotheken erinnern: nüchtern, mit Aufklärung und Hilfsangeboten für Suchtkranke. Und natürlich müssten solche Shops lizensiert werden. Auf der anderen Seite dürfte der Staat die Produkte nicht allzu teuer machen – denn dann gehen die Leute doch wieder zum Dealer.
Der Staat soll die Dealer mit Preisdumping für Drogen vom Markt fegen?
Nein! Aber natürlich herrscht auch in so einem Markt Wettbewerb. Die lizensierten Drogen könnten auch ruhig ein wenig teurer sein als die vom Schwarzmarkt. Ich glaube, die Konsumenten würden da schon einen Preisaufschlag zahlen, wenn Sie wüssten, dass sie ein geprüftes Produkt bekommen. Aber eine staatlich lizensierte Abgabe müsste trotzdem aufpassen, dass das eigene Angebot nicht total unattraktiv is. Man sieht ja bei Sportwetten, was dann passiert: Beim staatlichen Oddset werden gerade einmal fünf Prozent der Wette platziert, 95 Prozent des Geschäfts spielt sich im nicht lizensierten Bereich ab.