Herr Strack, was ist die Kernbotschaft Ihrer Studie?
Bis 2030 werden in Deutschland nach unserem Basisszenario rund 6,1 Millionen Arbeitskräfte fehlen, wenn wir nicht gegensteuern. Davon sind fast alle Bundesländer betroffen. Die Folge wäre: Wir wachsen in Zukunft in deutlich geringerem Maße und fallen auch im internationalen Vergleich zurück.
Wie haben Sie diese Lücke errechnet?
Beim Bedarf sind wir wie folgt verfahren: Wenn Deutschland sein durchschnittliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf der vergangenen zehn Jahre auch in Zukunft fortsetzen möchte mit der gleichen Steigerung der Arbeitsproduktivität, können wir mit einer einfachen Formel die Zahl der Arbeitskräfte berechnen, die dafür benötigt werden.
Für das Arbeitskräfteangebot nutzen wir die im April veröffentlichten neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts zur Bevölkerungsentwicklung inklusive der prognostizierten Einwanderungszahlen nach Deutschland. Aus diesen Zahlen und der Annahme einer steigenden Erwerbsquote ergibt sich die Prognose des Arbeitskräfteangebots 2030.
Die Differenz von Angebot und Bedarf ist dann die von uns errechnete Lücke.
Hier finden Sie die BCG-Studie zum Herunterladen:
Zur Person
Rainer Strack, 50, ist Senior Partner und Managing Director im Düsseldorfer Büro der Boston Consulting Group. Der promovierte Physiker arbeitet seit 1994 für BCG und leitet das Personalthema weltweit. Sein Vortrag zur Globalen Beschäftigungskrise auf der TED-Innovationskonferenz wurde mehr als eine Million mal angeschaut.
Wie wirkt sich eine so große Lücke aus?
Ohne Gegenmaßnahmen werden Wirtschafts- und Wohlstandswachstum sinken. Warum? Es fehlen schlichtweg die Mitarbeiter, die dieses Wachstum treiben können. Das BIP pro Kopf ist in den zehn Jahren zwischen 2004 und 2013 im Durchschnitt um jährlich 1,3 Prozent gewachsen. Bleibt es bei der Arbeitskräfte-Lücke, würde das BIP pro Kopf in den Jahren von 2014 bis 2030 durchschnittlich nur noch um 0,5 Prozent jährlich zulegen. Das bedeutet: Uns entgeht zum Beispiel im Jahr 2030 eine Wirtschaftsleistung von rund 440 Milliarden Euro.
Vor allem die neuen Bundesländer werden den Verlust an Arbeitskräften kaum verkraften. Es droht die weitere Verödung ländlicher Gebiete und die verstärkte Abwanderung von Unternehmen.
Und die Situation ist noch viel dramatischer, als es die Studie mit ihren Durchschnittszahlen zeigen kann. Wenn wir unterschiedliche Qualifikationslevel berücksichtigen, wird die Lücke bei höher qualifizierten Jobs wahrscheinlich noch größer sein, während bei niedrigqualifizierten hier und da sogar ein Überangebot bestehen wird.
Für den einzelnen Arbeitnehmer ist es doch aber gut, wenn er gefragt ist, weil er dann mehr verdient?
Stimmt, und die Arbeitssuche ist einfacher, wenn ich qualifiziert bin. Aber gesamtgesellschaftlich ist Arbeitskräftemangel ein Problem, vor allem weil künftig immer weniger Arbeitskräfte immer mehr Rentner finanzieren müssen.
Wie kann die Politik das Angebot an Arbeitskräften bis 2030 steigern, damit wir unser Wachstum pro Kopf halten können?
Da gibt es vier Hebel. Ein mögliches Maßnahmenszenario sieht wie folgt aus: Erstens: bessere Bedingungen für die Berufstätigkeit von Frauen – insbesondere für den Wechsel von Teilzeit zu Vollzeit. Wir müssen es schaffen, diese Erwerbsquote von 71 auf 75 Prozent zu erhöhen. Zweitens: Noch mehr Arbeitskräfte mit 65 Jahren plus x müssen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Diese Erwerbsquote liegt heute bei 5 Prozent. In unserem Modell steigt sie 2030 bereits auf zehn Prozent. Aber das reicht noch nicht: Es müssten 15 Prozent sein. Dazu müsste Berlin das Renteneintrittsalter erhöhen. Das wird früher oder später auch kommen, anders geht es nicht. Und viele Arbeitnehmer sind heute ja im höheren Alter auch fitter als früher.
Der dritte Hebel ist Migration. Hier haben wir schon das positive Szenario des Statistischen Bundesamts unterlegt, aber auch das ist nicht genug. Die Netto-Migrationszahlen müssten auf dem außerordentlich hohen Niveau des Jahres 2014 von rund 500.000 Menschen verbleiben. Wir brauchen außerdem nicht nur mehr Zuwanderer, sondern vor allem solche mit den passenden Qualifikationen. Dazu müsste Deutschland Prognosen anstellen, welche Berufe gebraucht werden. Wir müssten aber auch gleichzeitig dramatisch an der Produktivität arbeiten.