Was machen wir nach Corona? Das umgeworfene Hamsterrad

Sonnenaufgang im Schwarzwald Quelle: imago images

Krisenzeiten sind Fragezeichen-Zeiten: Gibt es einen Weg aus dem Hamsterrad – oder fallen wir schnell zurück in alte Muster? Wir haben es in der Hand.

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Derzeit sind alle bemüht, danach zu suchen, was die Corona-Krise mit uns macht. Hoch im Kurs steht die Frage, ob es nach der Krise so weitergeht wie zuvor. Aus sicherer Entfernung und noch weit genug entfernt von der Realität eines normalisierten Lebens, prognostizieren einige, wie etwa der Futurologe Matthias Horx, dass das Morgen anders sein wird als das Gestern und das Heute. Andere Fragen beziehen sich auf die Botschaft hinter der Krise: Was will sie uns sagen, welche Zeichen sendet uns Covid-19?

Hinter diesen Suchbewegungen steckt die Frage aller Fragen – die nach dem Sinn des Lebens. Es ist, wie es immer war: Für die, die sich nicht um das nackte Überleben kümmern müssen, deren Existenz nicht bedroht ist, eröffnet die Krise einen Raum, darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. Aber auch denjenigen, denen in diesen Wochen nur wenige Minuten zwischen Tür (Job) und Angel (etwa Zweitjob, Familie, Pflege von Angehörigen etc.) bleiben, stellen sich Fragen, sie suchen nach Antworten.

Interessant ist, dass diese Antworten diesmal über Milieu-, Alters-, Berufs-, Partei- und allgemeine Haltungs- und Ansichtsgrenzen hinweg ähnlich ausfallen – dass das Grundgefühl gleich ist, ein allgemeiner Wunsch erkennbar wird. Und dieser Wunsch lautet: Seht mich! Seht uns! Seht unsere wirklichen Bedürfnisse – jenseits unseres (konsumtiven) Verhaltens! Gemeint sind alle Bedürfnisse, die damit zu tun haben, wie man sich wünscht, behandelt zu werden.

In diesen Tagen wird so etwas wie eine Eigenzeit spürbar, vielleicht müsste man eher von einer Eigenschwingung, von dem Existenzwunsch des Selbst sprechen – von einem Selbst, das die Erwartungen des Außen vor der Tür lässt. So leicht ist dieser Eigentakt in Zeiten der „Normalität“ nicht zu greifen, weil wir uns auf die vielen Ablenkungen beziehen, die uns tagtäglich angeboten werden. Weil wir Fremderwartungen in Eigenerwartungen verwandeln. Weil wir in Strukturen gefangen sind, die uns vorzugeben scheinen, wie zu handeln ist. Wir alle haben dieses Leben gelebt, aber so richtig Freude hat es uns schon lange nicht mehr bereitet.

Da aber Corona uns verleitet zu glauben, dass wir alle ein wenig gleicher sind als vorher, fällt es plötzlich leicht, die Mauer zu Nachbarn, Kolleginnen und Vorgesetzten zu durchbrechen, zu sagen, wie es uns wirklich geht – über Sorgen zu sprechen, seine Sehnsüchte zu benennen: Man möchte nicht mehr das Leben der Anderen führen, sondern sein eigenes Leben; möchte nicht mehr in das Hamsterrad zurück, sondern Zeit haben für seine Familie und die Erfüllung seiner Wünsche. Es ist eine Zeit, in der die Betäubung der Moderne plötzlich nachlässt und der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird.

Gewiss: Manche werden sich „nach Corona“ freuen, erneut in das Spiel der Selbstbetäubung einzusteigen, weil sie die Konfrontation mit sich selbst nicht ertragen. Aber denen, die verstehen, dass die alte Normalität ihnen Eigenzeit geraubt hat, fällt nun die Aufgabe zu, für eine Strukturänderung zu sorgen: Die wirklich radikale Aufgabe beginnt erst nach der Krise – weil alle Organisationen darauf angelegt sind, auf dem schnellsten Wege wieder zurück in ihre Pfadabhängigkeiten zu gelangen. Auch Hochschulen können sich dem nicht entziehen. Sie müssen die Fragen nach dem guten, eigenbestimmten Leben in Lehre und Forschung thematisieren – und daran arbeiten, die Gesellschaft dem Menschen wieder näherzubringen.

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