EU verschärft Regeln für Plattformarbeit Gegenwind für die Gig-Economy

Quelle: imago images

Onlineplattformen wie Helpling oder Gorillas boomen, ihre Einnahmen haben sich zuletzt verfünffacht. Aber bei den Beschäftigten kommt das oft nicht an. Die EU-Kommission will nun ihre Rechte stärken.

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„Sie haben die Wahl!“ So werden Putzkräfte auf der Seite von Helpling begrüßt. Gestartet ist der Marktplatz vor zehn Jahren mit Selbstständigen. Seit vergangenem Jahr können sie sich bei der Registrierung auch dafür entscheiden, sich über ein Partnerunternehmen festanstellen zu lassen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass die digitalen Arbeitsplattformen zunehmend unter Druck geraten. 

Europaweit wurde in den vergangenen Jahren diskutiert, ob Menschen, die für die digitalen Dienste arbeiten, Selbstständige oder Arbeitnehmer sind. In vielen Mitgliedsstaaten – von Belgien bis Italien – prüften Arbeitsgerichte diese Frage. Das Bundesarbeitsgericht etwa urteilte, dass es sich bei einem Crowdworker, der per App Aufträge zur Warenkontrolle erhielt, um einen Arbeitnehmer handelte. Die EU schätzt, dass derzeit 5,5 Millionen der 28 Millionen Menschen, die ihre Dienste über die Plattformen anbieten, fälschlicherweise als selbstständig eingestuft sind. Mit gravierenden Folgen: Ihnen entgehen Sozialleistungen, bezahlte Urlaubstage und sie bekommen keinen Lohn, sollten sie krank werden. Ende vergangenen Jahres hat die EU-Kommission eine Richtlinie vorgelegt, die die Rechte der Plattformbeschäftigten stärken soll.

Legt die Plattform die Vergütung oder eine Obergrenze dafür fest? Überwacht sie die Arbeitsleistung und Ergebnisse, etwa auf elektronischem Weg? Schränkt sie die Möglichkeiten ein, An- und Abwesenheiten frei zu wählen, Aufgaben an- oder abzulehnen? Legt sie verbindliche Regeln über Erscheinung und Verhalten fest? Begrenzt sie die Option, einen eigenen Kundenstamm aufzubauen oder für Dritte zu arbeiten? Treffen mindestens zwei dieser fünf Kriterien zu, gilt eine Plattform als Arbeitgeber, so steht es jedenfalls im Entwurf. 

Uber: „Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet

Die Gesetzesinitiative hatte schon im Vorfeld für Unruhe gesorgt: Bevor das Dokument vorlag, zeichnete das Bündnis „Delivery Platforms Europe“, dem auch Uber Eats und Deliveroo angehören, bereits ein düsteres Bild: 250.000 Kuriere könnten ihren Job verlieren. „Wir befürchten, dass der Vorschlag der Europäischen Kommission Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet, kleine Unternehmen während der Pandemie lahmlegt und essentielle Dienstleistungen, auf die sich Verbraucher in ganz Europa verlassen, beeinträchtigt“, lässt Uber dazu mitteilen.

In Deutschland hatte Delivery-Hero-Chef Niklas Östberg schon vor der Bundestagswahl feste Arbeitsverträge als Standortnachteil für Deutschland bezeichnet. Ein Problem, das er vorerst nicht mehr hat: Ende Dezember gab der Dax-Konzern überraschend bekannt, seine Marke Foodpanda nach nur wenigen Monaten wieder vom deutschen Markt abzuziehen.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund spricht zwar von einem überfälligen Schritt, den Schattenarbeitsmarkt zu regulieren. Allerdings ist auch er nicht zufrieden – und kritisiert in einem kürzlich vorgelegten Positionspapier, dass die neuen Regeln nicht bei Vertragsverhältnissen greifen sollen, die bereits geschlossen wurden.

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Noch muss der Vorschlag im Europaparlament und im Rat verhandelt werden. Dann bleiben den Ländern weitere zwei Jahre, um die EU-Forderungen umzusetzen. Aber schon jetzt entfaltet das neue Regelwirkung seine Wirkung: „Viele Plattformen ändern gerade monatlich ihre Arbeitsbedingungen“, bemerkt Johanna Wenckebach, Leiterin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Sie befürwortet vor allem, dass die Plattformen belegen sollen, dass ihre Beschäftigten wirklich selbstständig arbeiten. Und sie müssen über ihre Algorithmen Auskunft geben: Dass eine Künstliche Intelligenz Managementaufgaben wie das Verteilen, Überwachen und Sanktionieren von Arbeit übernimmt, sei mit einer Selbstständigkeit nicht zu vereinbaren, betont die Juristin.

Volle Flexibilität, volles Risiko

Dass die Reinigungskräfte bei Helpling seit vergangenem Frühjahr wählen können, ob sie selbstständig arbeiten oder sich über ein Partnerunternehmen anstellen lassen, will Helpling-Geschäftsführer und Mitgründer Philip Huffmann nicht als Reaktion auf den zunehmenden politischen Druck verstanden wissen: „Wir wollten den Möglichkeitsraum erweitern für Unternehmen, die die Plattform mitnutzen möchten, und für Kunden, die eine Reinigungskraft in einem Angestelltenverhältnis suchen.“ 

Besonders gefragt sei die Festanstellung unter den Helplingen, wie Huffmann die Putzkräfte nennt, nicht. Von zehn entscheide sich bei der Anmeldung derzeit höchstens eine für die Festanstellung, sagt der 37-Jährige. „Als Selbstständiger muss ich mich nicht erklären, was ich wann machen möchte. Ich wähle selbst, wie viele Stunden ich putzen will – und zu welchem Preis.“ Von dem gehen dann im geringsten Fall noch einmal 20 Prozent Provision an Helpling. Vom Rest müssen sich die Putzkräfte sozialversichern und sie tragen das volle Risiko. Heißt: Keine Arbeit, kein Geld. Auf der Seite listet der Marktplatz jedoch nur die Vorteile der jeweiligen Anstellungsart auf.

Wer zu wenig bietet, bekommt keine Bewerbungen

Die EU schätzt, dass die Zahl der Plattformbeschäftigten in den nächsten drei Jahren auf 43 Millionen ansteigen wird – und damit auch die Anzahl der Scheinselbstständigen. Ob Crowd- (online) oder Gigwork (lokal), das Spektrum an Tätigkeiten ist allerdings breit. Einerseits gibt es Beschäftigte, die mal eben die Auslage in der Tankstelle prüfen. Andererseits finden sich hier auch hochqualifizierte ITler.

Für einige verbessern sich die Arbeitsbedingungen zumindest schon jetzt etwas. Denn die Not der Anbieter, Personal etwa für Lieferdienste zu finden, ist groß. In fünf Tagen von der Registrierung zum Job: In diesem Tempo läuft aktuell eine Jobvermittlung beim Start-up DriverHero. Das Münchner Unternehmen vermittelt über seine Seite seit Mai vergangenen Jahres potenzielle Fahrerinnen und Fahrer zu Lieferdiensten wie Hello Fresh, Wolt, Frischepost, Getir und Gorillas. 4000 Vorstellungsgespräche konnte Gründer Richard Fischer, ein ehemaliger Amazon-Manager, bereits vermitteln – 1400 Arbeitsverträge wurden geschlossen.

„Die Entwicklung geht klar zur Festanstellung“

Auf der Seite finden sich dabei nur Jobs in Festanstellung, egal ob in Vollzeit, Teilzeit, oder Minijobs. Spontane Jobs auf Auftragsbasis will DriverHero nicht vermitteln. „Die Entwicklung in der Branche geht klar zur Festanstellung“, sagt Fischer. Der Vermittler ist überzeugt, dass weitere Anbieter nachziehen müssen. 1,5 Millionen Menschen fahren deutschlandweit beruflich, schätzt er. Und wer denen zu wenig biete, der bekomme keine Bewerbungen. „Mit dem Mindestlohn findet man in München keine Fahrer.“

Mitunter haben die auch ganz andere Prämissen: Mattia Carraro fährt für Khora. Das Berliner Lieferkollektiv startete im August 2019 in Berlin. Nur zwei Tage, nachdem Deliveroo seinen deutschen Dienst eingestellt hatte – und 1100 freiberufliche Fahrer plötzlich vor dem Nichts standen.

Heute treten für Khora rund 20 Fahrerinnen und Fahrer in die Pedale und liefern in den Berliner Stadtteilen Kreuzberg, Neukölln und Friedrichshain täglich bis zu 70 Bestellungen aus. Seit dem raschen Start vor rund zwei Jahren hat sich viel verändert: Um die Arbeit besser zu organisieren, hilft inzwischen die Open-Source-Software CoopCycle, die weltweit über 80 Kurierkollektive nutzen. Mittlerweile ist Khora ein Projekt von Smart, einer europaweiten Dienstleistungsgenossenschaft, die sich auf Selbstständige spezialisiert hat. Über Smart sind alle angestellt, bekommen monatlich ein Gehalt ausgezahlt und sind sozial abgesichert.

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Mehr als den Mindestlohn zahlen sie pro Stunde aber nicht. Nur ums Geld ginge es auch nicht, betont Mattia Carraro. „Ich habe bei Deliveroo damals gut verdient.“ Aber bei Khora wollen sie anders zusammenarbeiten: Sie entscheiden im Konsens über Marketing, Personal und Restaurantakquise – und sie kennen sich inzwischen. „In der Gig Economy gibt es keine Gemeinschaft“, sagt Carraro. „Man radelt aneinander vorbei.“ Immerhin: Auch das soll sich mit den EU-Regeln ändern – künftig sollen Gewerkschaften Zugang zu den Plattformen bekommen, damit Beschäftigte sich organisieren können. Auch hierzulande plant die neue Regierung ein digitales Zugangsrecht.

Bei Khora bangen sie inzwischen auch nicht mehr, wenn eine Marke wie Foodpanda auf einmal wieder verschwindet oder von großen Übernahmen zu hören ist.  „Wir wollen uns etwas Langfristiges aufbauen“, sagt der 34-jährige Mattia Carraro. Sicherheit, das sei ihnen am wichtigsten.

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